Atemberaubende Chuzpe

Tino Standhaft & Band spielen im Krystallpalast-Varieté das beste Rolling-Stones-Konzert ohne die Stones
Das kleine, fesche Theater ist buchstäblich
bis auf den letzten Platz im
zweiten Rang ausverkauft. Tino Standhaft,
Paradiesvogel des Rock’n’Roll
aus Leipzig, und seine Band haben
am Montag und gestern Abend im
Krystallpalast-Varieté in zwei Konzerten
Hits der Rolling Stones gespielt.
Von LARS SCHMIDT
Gleich am Anfang macht der Meister
klar, dass dies kein Abend für Jagger/
Richards-Puristen wird. Hier wird nicht
nachgespielt, sondern neu und sehr eigen
interpretiert: Sie spielen „Let’s
Spend The Night Together“ und verzichten
dabei ebenso kühn wie komplett
auf das berühmteste „Bababdadab
… Yeah“ der Popgeschichte. Das
muss sich erst mal einer trauen. Aber
diese Band wagt, bestens aufgelegt, instrumental
perfekt besetzt und lückenlos
aufeinander eingegroovt, noch viel
mehr. Die Bühnenkonstellation – alle
immer sitzend – deutet zunächst auf ein
klassisches Unplugged-Konzert hin.
Tatsächlich aber greift der Meister sehr
oft zur E-Gitarre nebst Amp und Verzerrer
– und seine Mitsaiter sowieso.
Auch der durchweg exzellente Drummer
Björn Kerstan verwendet nur selten
Besen – und agiert selbst dann alles andere
als zurückhaltend.
Beim dritten Stück „Goodbye Ruby
Tuesday“ greift die Bratsche der bezaubernden
Shir-Ran Yinon aus Israel stilprägend
ins Geschehen ein. Zwei Songs
später kommt „Under My Thumb“, da
haben sie sich richtig eingespielt und
das Publikum mitgenommen. Es folgt
die Ballade „Wild Horses“ von legendären
„Sticky Fingers“-Album. Sie interpretieren
das durchaus anders, als die
Stones das gemacht haben, aber mit
dem gleichen langen Atem. Bei „Sympathy
For The Devil“ bringt sich das
Rund dann völlig ein und intoniert willig
(und ausdauernd bis zum Schluss
des Konzerts, wenn mal Pause ist):
„Hu Hu!“
Wie üblich bei Standhaft lebt das
Ganze von den perfekt abgestimmten
beiden Gitarreros, die links und rechts
der Bühne platziert sind. Standhaft lässt
es zu, dass sein kongenialer Klampfen-
Partner Norman Dassler aus der Rolle
der Nummer zwei nach dem Chef heraustreten
und ein Filigran-Solo nach
dem anderen spielen darf. Unglaublich,
was der Mann mit dem blonden Endloshaar
handwerklich drauf hat.
Ansagen gibt es wenige vom Chef,
wenn, dann launig, ungeprobt und
amüsant pointiert. Schwache Stellen
gibt es gleichfalls nicht. Das ist natürlich
auch dem exzellenten Ausgangsmaterial
geschuldet, das seinen Weg durch das
gnadenlose Rüttelsieb der Zeit in Richtung
Evergreen längst durchlaufen hat.
Höhepunkte dafür werden viele geboten.
„Jumping Jack Flash“ etwa, wo
Standhaft in seiner Eigenbearbeitung
Keith Richards eigentlich sakrosantes
Riff mit einer atemberaubenden Chuzpe
komplett umstellt. Oder – nicht unerwartet
– das kompositionsdramatisch
unschlagbare „Gimme Shelter“, bei dem
sich Frau Yinon in charismatischer
Weise stimmlich überhebt. Weil dieses
Stück genau das braucht.
Fazit: Das begeisterte Publikum hat
sein bestes Stones-Konzert ohne Satisfaction
und die Stones erlebt. Am Ende
der zweiten (nicht letzten) Zugabe erklingt
der irgendwie bewegendste Song
des Abends, von der Menge lautstark
gefeiert. Er heißt „Second Chance“. Der
aber ist gar nicht von den Rolling
Stones, sondern von Tino Standhaft aus
Leipzig. Warum eigentlich immer in die
Ferne schweifen …

Foto: André Kempner

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